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[Russland] Die sanfte Knochenbrecher

category russland / ukraine / belarus | antifaschismus | bericht author Saturday November 21, 2009 00:35author by . - Autonomous Action Report this post to the editors

Gestern, am Montagabend des 16.11., wurde der 26jährige Antifaschist Ivan "Vanya Kostolom" Khutorskoy im Eingang seines Wohnhauses in der Khabarovsk Straße im Osten von Moskau erschossen; Berichten zufolge wurden zwei Schüsse auf seinen Kopf abgegeben. [English]


Die sanfte Knochenbrecher


Gestern, am Montagabend des 16.11., wurde der 26jährige Antifaschist Ivan "Vanya Kostolom" Khutorskoy im Eingang seines Wohnhauses in der Khabarovsk Straße im Osten von Moskau erschossen; Berichten zufolge wurden zwei Schüsse auf seinen Kopf abgegeben.

Vanya war spielte eine wichtige Rolle in der russischen Antifa-Bewegung, und ich bin sicher, dass viele Leute in den kommenden Tagen, Monaten und Jahren ihre Erinnerungen an ihn niederschreiben werden. Aber im Moment sind die Meisten seiner Freunde zu wütend und entsetzt über den Verlust dieses Freundes und Genossen.

Meine frühsten Erinnerungen an Vanya gehen auf 2004 zurück, als ich gerade einen anarchistischen Infostand auf einem Konzert im R-Club durchführte. In dieser Zeit ging ich nicht gerade häufig zu Konzerten, weswegen mir die meisten Gesichter dort unbekannt waren. Das war die Zeit bevor die Hardcore-Szene sich wegen des Mordes an Sasha Ryukhin vollständig in den Untergrund zurückzog. Also war dieses Konzert noch offen beworben und jeder hätte dort rumlaufen können. Deshalb war ich ein wenig argwöhnisch über den Haufen an Skinheads, besonders über diesen einen großen Typen. Aber es gab keinen Grund zur Besorgnis; gerade weil er, Vanya, dort war, konnten alle sich sicher sein, dass er sich um mögliche Probleme kümmern würde.

Ich weiß nicht, woher Vanya seinen Spitznamen "Kostolom" ("Knochenbrecher") hat. Wahrscheinlich war das ironisch gemeint, weil es nur wenige gibt, die so freundlich und humorvoll sind, wie Vanya es war.

Das letzte Mal, als ich Vanya traf, war auf dem Mixed-Martial-Arts-Turnier "No surrender" am 10. Oktober 2009 in Moskau. Das Turnier wurde abgehalten in Gedenken an einen anderen ermorderten Antifaschisten, Fyodor Filatov. Vanya war, wie auf dem Photo zusehen ist, der Schiedsrichter. Vanya war sehr gut in Sambo, einer sovietischen Kampfkunst, die immer noch sehr populär ist. Er war erfolgreich bei Turnieren und stieg bis zum russischen Meisterkandidaten (degree of Candidate for Master of Sports of Russia) auf. Armdrücken war seine andere Disziplin. Diese Umstände machten ihn für die Nazis zu einem besonders gefürchteten und gehassten Gegner, gerade weil er nicht in ihr Feindbild des Junkies oder Alkoholikers hineinpasste. Nur wenige Nazis konnten es in einem fairen Kampf mit Vanya aufnehmen. Deshalb griffen sie ihn mit Rasierklingen, Schraubendrehern und Messern an, und als nicht mal das funktionierte, griffen sie zur Schusswaffe.

Davor hab ich ihn noch im vergangenen Mai getroffen, draußen vor einem Ska-P-Konzert. Niemand von meinen Freunden hatte 30 Euro für das Konzert dieser spanischen Ska-Punks über. Wir entschieden uns vor dem Eingang kostenlos Antifa-Material zu verteilen. Auf dem Poster, das das Konzert bewarb, war die Band in Antifa-T-Shirts zu sehen - keine große Sache in Spanien, aber in Moskau müsste ein Musiker dafür vielleicht mit seinem Leben bezahlen. Es war nicht weniger gefährlich vor der Konzerthalle Material zu verteilen, als in den Straßen irgendwelchen Leuten Flyer in die Hand zu drücken. Wir fragten Vanya und andere Leute, ob sie aufpassen könnten.

Offensichtlich waren viele nur beim Konzert, um Party zumachen, denn die Reaktion der Semi-yuppie Clubgänger und Punks war sehr unterschiedlich. Dann gab es einen Anruf - ein paar Kilometer weiter südlich war eine Gruppe von Genossen in Schwierigkeiten mit Nazis geraten, von denen sie nun verfolgt würden. Unsere Beschützer mussten dort hin um sie zu unterstützen. Ich dachte nicht im entferntesten daran, mich heute abend in einen Kampf zu begeben, aber ich hatte keine andere Wahl - einfach wo anders hinzugehen, nachdem ich an hunderte von Leuten Material verteilt hab kann sehr leicht mit einem 5-Zoll-Klinge zwischen den Rippen enden. Also ging ich mit.

Später trafen wir uns mit den anderen Leuten und bildeten eine Gruppe. Vanya ermahnte die Leute nicht zu früh auf die Nazis zuzulaufen, nur um nicht zu riskieren, dass sie zu zu früh ihre Unterzahl erkannten und dann entwischen würden. Aber die Leute konnten sich nicht zurückhalten. Zu weit waren die Nazis weg, als sie uns erblickten und flohen deshalb in Seitenstraßen und über Zäune, alle von ihnen entwischten. Ich war in schlechter Form, weshalb ich nicht so gut mit den anderen mithalten konnte. Vanya lief überhaupt nicht los, weil es für ihn aussichtslos war. Also blieben wir mit ein paar Frauen zurück, die nicht vorn dabei sein wollten, zusammen mit ihnen suchten wir die umliegenden Straßenzüge nach Nazis ab.

Am selben Abend gab es noch weitere Aktionen, einige Hintern wurden versohlt, einige weitere verpasste Gelegenheiten. Es würde nicht lohnen das en detail zu erzählen - während ich ein ungewöhnlicher Gast in dieser Gruppe war, war das Naziklatschen für Vanya so routinemäßig wie früh morgens aufzustehen. Man könnte hunderte dieser Geschichten aufzählen.

Seit dem Jahr 2000 war Vanya ein bekanntes Gesicht in der Punk-Szene. Auf Anti-Antifa-Websites sind viele Bilder von ihm veröffentlicht, auf dem ältesten Foto hatte er noch einen Irokesen-Schnitt. Er gehörte nicht zu den ersten Moskauer Antifas, die im Frühling 2002 zusammenkamen, aber als er ein oder zwei Jahre später dazu kam, blieb er endgültig.

Manchmal, nach solchen tragischen Ereignissen, scheint es zu einer regelrechte "Leichenjagd" (body-snatching match) zu kommen, bei welcher jeder zu einem Märthyrer werden will - damals war das mit Stanislav Markelov der Fall, der, als er noch lebte, wie ein Witzbold den Anarchisten erzählte, er wäre Sozialdemokrat, und den Trotzkisten und Stalinisten, dass er ein Anarcho wäre, nur um alle zu enttäuschen.

Jede politische Zuordnung, die man Vanya jetzt noch anzugedeihen gedenkt, würde daneben gehen, weil einfach jede Gruppe oder Clique ihn als einen der Ihren begreifen würden, so gut wie jeder war von ihm angetan. Vanya selbst fühlte sich den RASH zugehörig, was die unpolitischen und patriotischen Moscow Trojan Skinheads nicht davon abhalten würde, ihn als einen der Ihren zubegreifen. Für die Anarchisten war er ein Anarcho, und das ist nicht mal falsch, denn Vanya hatte anti-autoritäre und soziale Einstellungen und war jederzeit bereit, die Anarchisten bei Veranstaltungen zu unterstützen. Aber er lebte nicht für den Aktivismus - er lebte für die Straße und für Punk Rock.

Er war scharf wie eine Rasierklinge, er beendete sein Jurastudium an der Russian State Social University mit einem "Roten Diplom", was die größte Auszeichnung bedeutet, die ein Student aus dem ehemaligen UdSSR-Gebiet erhalten kann. Weil er einer der wenigen Juristen in der Szene war, hoffte ich manchmal, er würde sich bald zu den anderen politischen Anwälten gesellen. Stas Markelov hatte ständig Leute aus unserer Bewegung als Mandanten und konnte diese Fälle schwer allein bewältigen. Vanya und Stas kannten sich gut, und Vanya organisierte manchmal den Saalschutz für Pressekonferenzen von Stas. Meistens arbeitete Vanya aber als Anwalt im Zentrum "Deti ulitsy" ("Kinder auf der Straße"), in welchem mit Straßenkindern und anderen Kindern mit Problemen gearbeitet wird.

Natürlich werden sich einige fragen, warum er an diesem Abend zu seiner Wohnung nachhause ging, angesichts der Tatsache, dass seine Adresse nun auf Internetseiten verbreitet wurde. Vanya hielt sich häufig an anderen Orten auf. Kann sein, dass er wegen seiner Familie nachhause musste, kann aber auch sein, dass er dem Tod ins Gesicht spuckte, immerhin hatte er mehrere Mordanschläge überlebt.

Vanya wurde das erste mal im Jahr 2005 angegriffen, man zerschnitt seinen Kopf mit Rasierklingen. Der Überfall wurde damals mit einer Überwachungskamera aufgenommen und für eine Doku des Senders NTV benutzt, die man hier ansehen kann: http://rutube.ru/tracks/663741.html?v=242f56ae5e0dca6e5c9d77cc8558fb5d Darauf, im Herbst 2005, versuchten sie ihn zu töten, indem sie mit geschärften Schraubendrehern auf seinen Hals einstachen. (eine sehr populären Waffe bei den russischen Nazis, weil man damit tiefer zustechen kann, als mit einem Messer). Jeder dieser Stiche hätte tötlich sein können, aber wundersamerweise wurde keine Aterie verletzt und er überlebte. Dieser Überfall wurde auch von Überwachungskameras gefilmt, aber die Bullen waren sogar so wenig an Ermittlungen zu diesem Fall interessiert, dass sie sich nicht mal die Aufnahmen ansahen! Mehr als ein halbes Jahr dauerte es, bis Vanya wieder vollkommen genesen war.

Im Januar diesen Jahres erhielt Vanya bei einem Straßenkampf einen Messerstich in seinen Bauch. Diese Wunde war, genauso wie die anderen tödlich, aber er überlebte. Und jetzt, nachdem alles andere versagt hat, griffen die Nazis zur Schusswaffe - letztendlich haben sie ihn tot gekriegt.


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Vanyas Vater verstarb vor ein paar Jahre, Vanya lebte bei seiner Mutter und seiner Schwester. Jede Spende für die Freunde oder Familie ist willkommen, um die Begräbniskosten zu decken. Ihr könnt auf das Yandexkonto 41001411894609 überweisen oder an das Anarchist-Black-Cross in Moskau http://www.avtonom.org/donate. Schreibt ihnen aber zuvor, was ihr ihnen überweist und dass es für die Freunde und Angehörigen von Kostolom gedacht ist: abc [at] riseup [dot] net

Quelle:

Related Link: http://avtonom.org/index.php?nid=2857
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